Wer in der Zentral- und Landesbibliothek Ladekabel und Netzteil vergisst [so B.K.] kann dort anrufen und in einer Liste nachsehen lassen, ob etwas gefunden worden ist. Ein Ladekabel? Wurde nicht gefunden. Die Frau am Telefon schlägt vor, ich solle trotzdem mal vorbeikommen. Am Blücherplatz komme ich in den Genuss, die Liste für Fundsachen in Aktion zu sehen. Sie ist horizontal auf einem A4-Blatt orientiert und in einem Ordner abgeheftet. Es gibt drei handschriftlich ausgefüllte Spalten, die die Fundsachen – frei bezeichnet – nach Eingang verzeichnet.
Der Mann am Schalter fragt mich nach dem Verlustdatum und blättert den Ordner durch. Ein Ladekabel wurde nur an einem anderen Tag gefunden. Er schließt den Fundsachenraum auf. Zurück kommt mit einem Plastik-Reißverschlusstäschchen. Darin ist ein Ladekabel, das leider nicht meins ist.
Ich bin Feuer und Flamme von dieser bibliothekarisch-ordentlichen Herangehensweise für Fundsachen. Ein Katalog für Fundsachen.
Apropos Verlust. Während ich Reisnudeln vorbereite, C eine Nachricht schreibt, dann schon Tür betritt, stehen in der Mitte der Werftstraße der Krankenwagen und ein Polizeiauto. C hält mir sein Handy vor die Nase „WELCOME TO MY WORLD“. Wir verfolgen live wie D mit in Haut geritzte Symbole mit zwei Polizisten ein Selfie macht. Die Polizisten stehen wie Bodyguards hinter ihm und schmunzeln. Im Hintergrund läuft schnelle Schlagzeugmusik. Wenn ich mich nicht irre, höre ich ein paar Drum and Base Beats. Auch Til Lindemann sitzt im Publikum. Zumindest zeigt das Profilbild einer der Nummern Til Lindemann.
Ich habe ein distanziert-höfliches Mitgefühl und denke an eine meiner Freundinnen. Wir laufen an Krankenwagen und Polizeiauto vorbei zu meinem Auto. Dort liegt ein Gutschein, mit dem ich mir gerne ein Ladekabel kaufen möchte. Leider muss man ihn erst freischalten und dann kann man ihm im Internet einlösen. Wie nervig. Freischalten, 24h warten, online bestellen, wieder warten. Ich mag Läden.
Wir sitzen auf Höhe des Buchstabenmuseums an den Gleisen. Ich drücke meinen Fingernagel zwischen dem Mückenstichkonklumerat in meine Wade und hinterlasse tiefe Kerben. C sagt, dass die Unwissenheit schützt und man Leid nicht vergleichen kann. Weil es nämlich keine universelle Sprache dafür gibt. Jeder drückt Leid anders aus. Ich gebe mir Mühe, Leuten, denen der Zucker in den Arsch gepustet wurde, die sich gemütlich in ihrem Leben eingerichtet haben und kein universelles Leid erfahren haben, diese tatsache nicht übel zunehmen. »Ich persönlich habe nichts gegen Reiche, ich hasse sie nur.«1
Ein Auto mit KS-Kennzeichen fährt vorbei. Marc Zuckerburg steigt nicht ein, aber er öffnet die Tür. es handelte sich wohl um keine Drogenübergabe. Die Frau im Auto fährt wieter. Gegen das Jucken der Mückenstiche kann man nichts machen.
Die Kraft von Wahnhaftem Verhalten ist nicht
Das Wort ›labil‹ passt nicht wirklich zu psychotischem Verhalten. Dafür ist die Kraft des Wahns zu stark. Die Institution hat einem solchen Auftreten gegenüber nicht viel in der Hand. Wahrscheinlich gibt es ein Formular, das ein Mensch unterschreiben muss, in dem er das wahnhafte Verhalten eingesteht – und wer würde das freiwillig tun. D schreibt: Alles gut. Ferndiagnose vom Balkon gegenüber: Nichts ist gut.
Andauernd denke ich an Auf den Gleisen von Inga Machel. (Lektüretip!)
Am nächsten Tag verliert der Spätimann etwas von seinem Ansehen, als er über D, der mit einem großen Hut, nacktem Oberkörper und fertigen Augen Leute auf der Straße anlabert, ohne Mitgefühl spricht.
- Olivier David [↩]