– in Bayern isst man sie den ganzen Tag lang:
– Weißwürste. was sonst.
– was es nicht gibt in Oberammergau:
– Weißwürste
– honestly?
– nein: Taxis.
– und Sonne.
ich sitze im Zug.
später werde ich sagen: i went to Oberammergau. wie immer wird davon ausgegangen, dass es gut ist, weg zu sein. anderswo zu sein. being away – Teil des Authentifizierungsprozesses, den man durchlaufen soll, um bestmöglich man-selbst zu werden. (immer mehr ich)
die erste Frau
irgendwann fragt die Frau neben mir, was ich denn da schreibe.
»einen blog.«
— Lachen von hinten: »das ist so 2003!«
sie fragt weiter:
»für wen?«
»für mich«
»ein Tagebuch?«
»nein, es ist schon öffentlich«
»und über was?«
»über alles …«1
ich weiß nicht, ob sie verstand, was ich mit der Praxis meinte, die ich mir zu bewahren erhoffte, durch das regelmäßige Schreiben.
sie begann zu erzählen: sie orientiere sie sich gerade neu2. ich hab schon wieder vergessen, was sie arbeitet. aber eigentlich wollte sie immer was mit Fotografie machen. nie war nie mutig genug. wieder mal ist die Familie an allem Schuld: eine mittelständische, österreichisch Arbeiterfamilie. sie, die erste Studierende, will jetzt mit Mitte dreißig ihr Geld mit shootings verdienen. gerade kommt sie von einem solchen – ein shooting in Berlin, mit einem Model aus London. ihre Familie kauft sich Kitesegel für zweitausend Euro, sie kauft sich ’ne Kamera von dme Geld.
ich verliere meinen pädagogischen Ansatz von ›alle können Kunst machen‹ und denke:
du sprichst aus der Position einer gutverdienenden Festangestellten, für die die Kreativität Selbstverwirklichung ist. Kreativität ist aber nicht ausschließlich Selbstverwirklichung, sondern eng mit einigen beruflichen Feldern verknüpft, um die eine merkwürdige Aura schwebt. eine Aura der Freiheit und der Selbstbestimmtheit.3456
F sollte am Abend vorschlagen: die auf mich – die freie, unabhängige Kreative – projizieren sollen mir monatlich einen Prozentsatz ihres Einkommens überweisen, damit ich das Ideal aufrecht erhalte.
… oder wir halte es eben geheim, wo das Brot her kommt. ich denke an M und die Firma, wie er sie nennt. niemand weiß, was diese Firma ist, aber sie frisst seine Zeit und die Geheimtuerei macht sie wichtiger, als sie ist.7 aber das widerspricht der geforderten Authentizität. dem widerspricht auch, dass die Zeit rar ist – zu rar, um mehrere Dinge gleichzeitig zu tun, und noch rarer, wenn man die Dinge gut tun will. eine gute Angestellte und eine gute Kreative sein. das ist kaum möglich.
in München, am Hauptbahnhof beginnt das Ziehen, es zieht weiter, als ich die grünen Hügel, die vertraute Vegetation sehen. Tropfen rinnen die Scheiben hinab. das Ziehen befindet sich im Brustbereich. der Dialekt klingt vertraut.
»Patriotismus?«, sollte F später in den Raum werfen, nachdem ich mir einen Schirm mit Edelweiß gekauft habe. aber nein, kein Patritotismus, einfach die Zuneigung, die sich eingestellt hat. Gegenstand der Zuneigung ist das Gebiet, in dem ich großgeworden bin und das ich so gut kenne, dass es wehtut.
Wirtschaftspsychologen sagen, es brauche acht Mal, die ein Kunde ein Produkt gesehen haben muss, bevor er es kauft. ES BRAUCHT KEINE WIRTSCHAFTSPSYCHOLOGEN, UM ZU SEHEN, DASS ES LEICHT IST SICH FÜR DAS BEKANNTE ZU ENTSCHEIDEN. wieder denke ich: diese Landschaft ist mir so viel vertrauter als die Stadt8
ÜBER DIE ZERISSENHEIT SCHREIBEN, ALS EINE FORM, SICH IHRER BEWUSST ZU WERDEN. ob das Gefühl der Zerissenheit ein Gefühl ist, das mit vollzogener Entscheidung einhergeht? sich für etwas entschieden haben und eine Möglichkeit ausgeschlagen haben.
die Amerikannerinnen9 verabschieden sich – anders als die Pfadfinder, indem sie sich vorstellen:
»I´m Thessa.«
»I´m Martina«
die Pfadfinder werfen ein lautes ›grüßgottt‹ und ›aufwiedersehen‹ in den Waggon.
später, in Oberammergau, regnet es in Strömen.
nein nicht in Strömen, aber kontinuierlich.
gestern gab es ein Unwetter, erzählte die Frau, neben der ich im Schienenersatzverkehr von Murnau nach Oberammergau sitze. es regnet noch immer. die Frau erzählt. in jeder Erzählung ist ihr Mann dabei. »ich und mein Mann« wie sie das so sagt ›mein Mann‹ – kindlich und klammernd. ›ich und mein Mann und meine Kolleginnen‹ – sonst nichts. ihr Mann und sie sind bei der freiwilligen Feuerwehr, da haben sie gestern noch doie vollgelaufenen Keller ausgepumpt. ihr Mann sei um 4 nach Hause und um halb 7 wieder los. er ist (das ontologische ist) Lagerist und er ist ihr Mann.
ein Ängstlichkeit einer Einzelnen dem Anderen gegenüber, umfasst hier den zweiten. SOWAS KANN MAN ALS ZEICHEN DER LIEBE DEUTEN. sie erzählt und erzählt, stellt keine Fragen. bald fahren sie nach Berlin mit ihrem Mann. am Hauptbahnhof kommen sie an. schlafen tun sie in einem Hotel am Alex.
»da komme ich gerade her, aus Berlin«, sage ich.
worauf ihr nichts anderes bleibt als zu fragen:
»ist das da mit den Ausländern auch nicht so schlimm?«
damit hatte ich nicht gerechnet, kann aber beruhigen, dass es ziemlich bunt10 ist in Berlin, aber keinesfalls so schlimm, wie sie es sich vorstelle.
sie steigt eine Station vor mir aus.
als ich aussteige, stehe ich mitten im saftigen Grün.
es regnet. ich frage nach dem Weg. genieße es, ohne mein Handy geleitet zu werden. mag die bayrischen Stimmen der Feuerwehrmänner, die mir sagen: »immer links, bis zur Brücke und dann wieder links.«
- warum der Block trotzdem kein Tagebuch war, musste ich noch in Erfahrung bringen. aber ein blog ist eben kein Tagebuch. es geht um die Praxis, das Machen und ein Tag bietet sich an, um von ihm zu berichten. man hat ihn sowieso und er kostet nichts. [↩]
- ich denke an Von Wegen Lisbet: Podcast [↩]
- sobald die Freiheit gilt, verlieren allgemein anerkannte Abmachungen ihre Kraft: Stundenlohn, Absicherung, … [↩]
- später denke ich mir: es ist das Liquididäts-Sicherheits-Dreieck, das auch hier gilt. [↩]
- wenn Kreativität ausschließlich Selbstverwirklichung ist, verlieren die Faktoren Übung und Regelmäßigkeit an Bedeutung und die Kreativität wird zu einem Konstrukt, das es nur noch zu beschließen und nicht mehr zu tun gilt. [↩]
- am 220516 sollte ich mit C darüber sprechen, dass die Individualisierung sich bis zur Berufswahl niederschlägt. ich arbeite nicht nur, ich habe einen Job – den ich bin. ich denke an mittelalte Männer mit Firmenlogos auf ihrem Shirt. C, der sagt: »wir sollten uns nicht so ernst nehemn« und ich [↩]
- ich denke auch an verschlossene Schlafzimmertüren. [↩]
- aus Birgit Kunz: ›und dann?‹ [↩]
- »do you ride horses?« –
»I grew up on a ranch« [↩] - und auch ich bin auch Zugezogen in Berlin. [↩]
Kommentare
[…] mich um das Alleine-Sein-Werden während des geplanten Auslandsaufenthalts. ich verziehe den Mund. die gnadenlose positive Einstellung dem Weggehen gegenüber lässt mich immer zweifelnd zurück. schön ist es, alleine zu sein, aber ebenso anstrengend und […]